Konflikt und Freiheit

„Desto mehr Freiheit, je mehr aus Vernunft gehandelt wird, und desto mehr Unfreiheit, je mehr aus Leidenschaft gehandelt wird“ – dieser berühmte Spruch des Philosophen Leibnitz hat lange und tief das Verständnis von Freiheit geprägt. Durch (vernünftiges) Denken und (vernünftiges) Handeln entsteht Freiheit, so die Annahme: Freiheit von biologischer (reflexhafter) Abhängigkeit und sozialer Knechtschaft sowie Freiheit für unabhängige, eigene Lebensentwürfe und -vollzüge. 

Gegen diese aufklärerische Hoffnung wurden seither viele Einwände erhoben, so u. a.

  • der soziale Einwand: die Freiheit des Einzelnen ist begrenzt durch die Freiheit des Anderen.
  • der ökonomische Einwand: die gesellschaftlichen Verhältnisse gewinnen bestimmenden Charakter.
  • der biologische Einwand: alle Lebensentwürfe und -vollzüge, wie frei sie immer auch gedacht und empfunden werden, gründen auf biologischer Versorgung.
  • der neurobiologische Einwand: alle Gedanken und bewussten Impulse sind von unbewussten Affekten vorgeformt und bestimmt.
Auch die Psychoanalyse erhebt Einwände gegen die Hoffnung auf umfassende Freiheit und betont zunächst, dass Denken, Handeln sowie auch Empfindungen determiniert, also unfrei und bestimmt sind von unbewussten psychischen Prozessen. Der Freiheit steht eine vielfache Abhängigkeit von inneren Dynamiken/Trieben, von leiblichen Grenzen sowie von Beziehungserfahrungen und -prägungen gegenüber, die unbewusst immer wieder reinszeniert werden (Wiederholungszwang). Gegen Leibnitz berühmten Spruch steht der ebenso berühmte Freuds: „Wir sind nicht der Herr im eigenen Haus“. Die Idee der Freiheit wird im Lichte der Psychoanalyse zunächst kritisch als mögliche menschliche Größenphantasie hinterfragt.


Auffällig allerdings ist, dass die psychoanalytische Praxis darauf abzielt, größere Unabhängigkeit von den Begrenzungen des Leibes und (früher) Beziehungserfahrungen zu gewinnen. So zeichnet die Psychoanalyse auch die Formen möglicher Freiräume, worauf schon das Konzept der freien Assoziation verweist: nachträglich ist es möglich, unbewusste Zwänge (z. Tl.) aufzulösen, so dass eine Freiheit gegenüber der eigenen Geschichte erwächst. 

Diese Freiheit gegenüber der eigenen Geschichte entsteht aus Anerkennung der eigenen Grenzen und aus den Erfahrungen, die für psychoanalytischen Sitzung wesentlich sind: aus der Beziehung zum wohlwollenden therapeutischen Gegenüber, aus der Übertragungsbeziehung also, erwächst etwas Neues, psychische Neuformation.

Die psychische Neuformation erlaubt es, die eigene gewordene Subjektivität in ihren Wünschen, Fantasien und Träumen besser zu erkennen; Deutungen in der analytischen Sitzung ermöglichen, eine veränderte Position einzunehmen, mit sich selbst umzugehen, nicht nur determiniert oder Opfer seiner selbst zu sein. Insgesamt wird also Anerkennung möglich und die Würdigung der Konflikte, die menschliche Existenz ausmacht: Konflikte zwischen Autonomie und Bindung, zwischen Abhängigkeit und Freiheit.



Mit dem Erkennen und der Anerkennung der Konflikte kommt die Psychoanalyse dem Freiheitsbegriff der Aufklärung sehr nahe, bei dem es darum ging, die „Ketten der Unfreiheit zu brechen“ und zugleich die Fesseln von bleibenden Unfreiheiten kritisch zu würdigen. Der möglichst freie Umgang mit Unfreiheiten macht menschliche Würde aus. Psychoanalytisch ausgedrückt: Die „nachträgliche Freiheit“ ist eine Freiheit, Gedanken und Affekte freier zwischen Lust- und Realtitätsprinzip zirkulieren zu lassen, um die eigenen Konditionen zu erspüren und so zu verändern. Die "nachträgliche" Freiheit wird von drei Quellen gespeist: der Vernunft, der Leidenschaft sowie dem würdigenden Blick auf das eigene Selbst und seinen Beziehungen.